«Es zerreisst mich fast»

Geschiedene können ihre Kinder gnadenlos manipulieren – bis zur Diffamierung des andern Elternteils. Endlose Prozesse sind die Folge, trotz des neuen Scheidungsgesetzes.

Von Hanspeter Bundi

Als Leo R.* am Abend des 11. Februar 2003 heimkam, fand er sein Haus verlassen vor, ohne Frau und ohne Kinder. Es war das Ende einer Ehe und der Anfang einer Entfremdung von seinen zwei Kindern. Seit September letzten Jahres ist die Beziehung zur 13-jährigen Sandra und dem 8-jährigen Christian unterbrochen; die Mutter will es so.

Im seinem Fall ist die erzwungene Trennung besonders absurd, denn Leo R. ist Lehrer, und seine Tochter geht zu ihm in die einzige Sekundarschule des Dorfes in der Ostschweiz. So steht er fast jeden Tag vor ihr, lehrt naturwissenschaftliche Fächer, und sie bemüht sich, eine aufmerksame Schülerin zu sein. Sie sagt ihm Du und vermeidet im Übrigen, ihn mit dem Namen oder als Vater anzureden. «Manchmal zerreisst es mich fast, wenn ich sie so sehe», sagt Leo R. Doch er setzt sich dem Druck aus, es ist für ihn die Chance, dass seine Tochter ein anderes Bild von ihm bekommt, als ihre Mutter es ihr vermittelt. Er ist ein schlanker Mann Ende dreissig, sportlich, mit einem sensiblen Gesicht, einer, bei dem man sich vorstellen kann, dass er seinen Kindern ein guter Vater ist.

2002 waren 12'716 Kinder von einer Ehescheidung betroffen, 20 Prozent mehr als 15 Jahre zuvor. In den meisten Fällen können sich die Eltern nach anfänglichen Turbulenzen darauf einigen, wo die Kinder vor allem wohnen sollen und wann sie den andern Elternteil, meist den Vater, besuchen dürfen. Wenn sie sich nicht einigen können, entscheiden in erster Linie die Vormundschaftsbehörden.

Diese versuchen, zwischen streitbaren Eltern zu vermitteln, und geben bei Bedarf psychologische Gutachten in Auftrag. Weg vom Gericht und den Juristen – hin zu einer sozialen Institution und zu psychologischen Fachleuten: Das ist die Richtung, die das neue Scheidungsrecht seit dem 1. Januar 2000 vorgibt.

Die Verlagerung macht Sinn. Sinnvoll ist es auch, dass vor Gericht nicht mehr verhandelt wird, wer an der Zerrüttung einer Ehe schuld sei. Doch die Praxis zeigt, dass rachsüchtige Partner in Zusammenarbeit mit Anwälten es trotzdem noch schaffen, sich selber, das Gericht und den gehassten Ex mit Juristerei zu beschäftigen. Am ergiebigsten und am verletzendsten sind dabei Streitereien über das Sorgerecht und das Besuchsrecht. «Die Kinder sind das einzige Kampffeld, das unversöhnlichen Eltern noch offen steht», sagt Wilhelm Felder, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Bern.

Fachleute schätzen, dass jedes zehnte Scheidungskind heute psychologischen Beistand benötigt, meist wegen der Unvernunft seiner Eltern. «Der einzige Stress für ein Kind, der schlimmer ist als zwei streitende Eltern, sind zwei geschiedene streitende Eltern», schreibt die amerikanische Scheidungsforscherin Mavis Hetherington.

Im Fall der Familie R. bekräftigten beide Eltern in einem Mediationsgespräch zwar ihre Absicht, das Wohl der Kinder über alles zu stellen und nicht gegeneinander zu intrigieren, doch Leo R. musste zwei Monate dafür kämpfen, einen Besuchsrhythmus zu etablieren. Einen Sommer lang konnten die Kinder ihren Vater regelmässig besuchen und mit ihm in die Ferien fahren. Doch seit dem ersten Septemberwochenende des Jahres 2003 läuft gar nichts mehr.

Auf einer Wanderung hatte Leo R. seine Drohung wahr gemacht und seinen quengelnden Sohn Christian ins hüfthohe Wasser eines Bergsees geschleppt. Bei einer guten Beziehung zwischen den Eltern hätten Mutter und Vater diesen Erziehungs-Ausrutscher gemeinsam mit Christian ausgleichen können. So aber reichte Mutter Maja R. umgehend eine Polizeiklage wegen Tätlichkeit ein. Seither hat Leo R. seine Kinder nicht mehr gesehen.

«Sie wollen gar nicht zu ihm», sagt Mutter Maja R. Die Reaktion hat in der Fachwelt einen Namen. Es ist Parental Alienation Syndrom (PAS) oder auf Deutsch: das Eltern-Kind-Entfremdungs-Syndrom. In ihrem Buch «Scheidung und Kindeswohl» schreiben Liselotte Staub und Wilhelm Felder: «Alienation bedeutet die kompromisslose Zuwendung eines Kindes zu einem Elternteil und die ebenso kompromisslose Abwendung vom andern Elternteil.»

Meist ist der sorgeberechtigte Teil für diese Entfremdung verantwortlich, und das ist in neun von zehn Scheidungsfällen die Mutter. Ein säuerlich verzogener Mund, wenn das Kind zum Vater geht. Ein Verbot, über ihn zu reden. Negative Äusserungen. Verächtliche Handbewegungen. Das alles signalisiert dem Kind offen oder versteckt, dass seine Liebe zum Vater nicht gern gesehen ist. Für die Kleinen sind diese Signale wie Stacheldrähte, die zwischen den Eltern aufgespannt sind. Um den Spannungen auszuweichen, entscheiden sich Kinder für die Mutter und gegen den Vater. Der Berner Jugendpsychiater Felder betont, dass nicht nur Frauen versuchen, das Kind vom abwesenden Elternteil zu entfremden. In den letzten Monaten hatte er zweimal mit Vätern zu tun, die im erfolgreichen Kampf um das Sorgerecht alles taten, um einen Keil zwischen Kinder und Mütter zu treiben.

Leo R. ist den Distanzierungen hilflos ausgesetzt. Angesichts der verfahrenen Situation hat die zuständige Vormundschaftsbehörde das Besuchsrecht vorläufig sistiert. «Die verantwortlichen Frauen dort sind überfordert», sagt Leo R. «Sie schwanken hin und her, je nachdem, mit wem sie gerade gesprochen haben, mit meiner Exfrau oder mit mir.»

In einer ganz andern Ecke der Schweiz hat Bernhard F. mit der Vormundschaftsbehörde andere, bessere Erfahrungen gemacht. Gleichzeitig hat er aber erlebt, wie ein Anwalt mögliche Verständigungen und Fortschritte zunichte machen kann. Der Anfang seiner Scheidungsgeschichte tönt ähnlich wie die Geschichte Leo R.s. Am 19. Juli des Jahres 2000 kam Bernhard F. abends um halb sieben heim und fand das Haus leer vor. Er hatte keine Ahnung, wo seine Frau und der damals dreijährige Sohn Thomas sein könnten. Zehn Minuten später läutete das Telefon. Es war Regula F.s Anwältin. «Ihre Frau will ein neues Leben anfangen. Am besten ist es, Sie suchen sich einen Anwalt. Alles Weitere besprechen wir vor Gericht.»

Bernhard F. hat drei dick gefüllte Ordner mit Dokumenten vor sich und erzählt detailliert von seinem Kampf um einen regelmässigen Kontakt zu Thomas, von Ferien, die ins Wasser fielen, und von Tricks, die er anwandte, damit es mit dem nächsten Urlaub klappte. Im Frühling des Jahres 2003 – Thomas besuchte mittlerweile den Kindergarten – schien es, als ob alles besser würde. Der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst des Kantons sowie die Kindergärtnerin hatten beim Buben ein aussergewöhnlich grosses Bedürfnis nach Kontakten mit seinem Vater festgestellt. Deshalb schlug die Vormundschaftsbehörde seines Wohnorts vor, Thomas solle jedes zweite Wochenende und während vier Ferienwochen bei seinem Vater wohnen. Ausserdem solle Bernhard F. seinen Sohn regelmässig anrufen dürfen. Die beiden Eltern erklärten sich mit dem Entwurf zur Regelung einverstanden. Man trennte sich distanziert, jedoch ohne böse Worte.

«Im Gespräch mit den Eltern lassen sich strittige Fragen meistens klären», sagt eine Juristin der zuständigen Vormundschaftsbehörde. «Aber dort, wo Anwälte herumwühlen, haben wir ein Problem.»

Im Fall F. heisst der Anwalt Klaus A. Acht Tage nachdem die Vormundschaftsbehörde die Besuchsregelung für das Jahr 2003 erlassen hatte, legte er Beschwerde ein. In der Folge deckte Anwalt A. Bernhard F. und die Behörden mit superprovisorischen Verfügungen, Beweisanträgen, Stellungnahmen und Beschwerden ein. A. intervenierte nicht nur am Wohnort, sondern auch höhern Orts, stellte die Zuständigkeit der Vormundschaftsbehörde in Frage, legte Beschwerde gegen das kantonale Vormundschaftsamt ein, erklärte den Jugendpsychiatrischen Dienst und die lokale Vormundschaftsbehörde für befangen.

Wer im Dorf anruft und nach den Erfahrungen mit Klaus A. fragt, bekommt ein Stöhnen zu hören und dann die Bemerkung, da gäbe es viel zu sagen, aber man wolle nichts erzählen, sonst habe man eine weitere Klage oder Beschwerde am Hals. Der Gemeindepräsident schätzt, dass der Papierkrieg, den Regula F.s Anwalt in Gang gesetzt hat, seine Gemeinde und damit den Steuerzahler rund 10'000 Franken gekostet hat. Auch die Anwaltskosten gehen ins Geld, unter anderem deshalb, weil A. mittlerweile seine Mandantin selbst zu Gesprächen mit der Kindergärtnerin begleitet. Schon zweimal hat A. seinen Prozessgegner aufgefordert, für die aufgelaufenen Anwaltskosten geradezustehen – ein Ansinnen, das Bernhard F. weit von sich weist.

Auch er dreht an der juristischen Spirale mit und hat gegen den Anwalt Anzeige wegen Lüge und Verleumdung deponiert. Die Interessengemeinschaft geschiedener Männer (IGM) hat den Fall aufgegriffen und bei der Anwaltskammer Beschwerde erhoben. «Die Mittel, welche Herr Dr. A. einsetzt, erscheinen äusserst fragwürdig und am Rande der Legalität», schreibt die IGM. «Uns sind ausserdem mehrere Fälle bekannt, wo Herr A. eine Übereinkunft mit sehr fadenscheinigen Gründen verhindert hat.» Das ist starker Tobak.

Klaus A. seinerseits ist überzeugt, dass er mit seinen Interventionen ganz im Interesse seiner Klientin handle und dass er immer kompromissbereit gewesen sei. Es sei nicht seine Klientin, sondern Bernhard F., der mit seinen übermässigen Forderungen nach Telefonkontakt und Besuchsrechten für die Grosseltern eine Einigung immer wieder torpediere, sagt er.

Irgendwo zwischen Papieren und gegenseitigen Beschuldigungen steckt der kleine Thomas, wird zur Sache, die vom Vater «abgeholt» und von der Mutter «herausgegeben» wird. Brigitte Contin, Oberärztin beim Berner Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst und Fachfrau für Gutachten bei Elternstreitigkeiten, hat oft mit Kindern wie Thomas F. zu tun. Dabei hat sie festgestellt, dass die Arbeit der Psychologen schwieriger wird, wenn parallel zu einer Abklärung oder einer Therapie auch Gerichtshändel laufen und Anwälte im Spiel sind. «In der Psychologie geht es darum, sensibel mit den Menschen umzugehen. Die Anwälte hingegen treten oft dominant auf, suchen nach Fehlern.» Dadurch, sagt Contin, sei die Suche nach Lösungen von vornherein eingeschränkt. «Wenn Elternteile erleben, dass jeder Irrtum gegen sie verwendet werden kann, sind sie nicht bereit, sich auf Versuche einzulassen», sagt sie.

Die Zürcher Psychologin Miriam Rosenthal-Rabner wird immer wieder daran erinnert, was streitbare Eltern ihren Kindern antun. Sie ist Mediatorin, versucht also, Scheidungspaare wenigstens so weit zusammenzubringen, dass sie ihre Kämpfe nicht auf dem Rücken der Kinder führen. Die Gräben zwischen den Eltern können laut ihrer Erfahrung auch mit psychologischen Gutachten nicht überbrückt werden. Im Gegenteil. «Oft wird ein solches Gutachten von einem der beiden Elternteile als Niederlage erlebt, die dann zu neuen Kämpfen führt», sagt sie. In der Mediation sei es deshalb wichtig, den Scheidungspartnern das Gefühl des Scheiterns und damit der Niederlage zu nehmen.

Mediation ist gut, tönt gut und wird vom neuen Scheidungsgesetz gefördert. Doch genau dort, wo sie am nötigsten wäre, verweigern sich verfeindete Partner. Es ist ein Teufelskreis. Wer seinen Kreuzzug um die Kinder durchziehen will, wird immer Familienangehörige und Freunde finden, die ihn dabei unterstützen. Und er wird auch immer einen Anwalt finden, der ohne Rücksicht auf Verluste, wohl aber mit Aussicht auf Honorare mit in den Kampf zieht.

Ein wenig Hoffnung bleibt trotz allem. Da ist zum einen die Einschätzung eines juristischen Praktikers. «Die Scheidung ist sachlicher geworden», sagt Bruno Lötscher, Ehegerichtspräsident am Zivilgericht Basel. «Die ganz schlimmen, ganz bitteren Fälle gibt es noch immer. Aber sie sind selten.» Besserung stellt auch die Statistik in Aussicht. Das neue Familienrecht erlaubt geschiedenen Paaren, das Sorgerecht für ihre Kinder gemeinsam wahrzunehmen. Im Jahr 2000 entschieden sich gerade mal 1189 Elternpaare für den einvernehmlichen Weg. Im Jahr 2002 waren es schon doppelt so viele.