Streit ums Kind
Und der Staat schaut zu
Text: Otto Hostettler
Bild: Anna Luchs
Jährlich enden bis zu 4000 Scheidungen im Kampf. Schleppende
Gerichtsverfahren sowie passive Behörden tragen immer wieder dazu bei, dass sich
Eltern das Besuchsrecht für ihre Kinder vorenthalten können.
Es war wie alle zwei Wochen: Markus Einhaus (Name geändert) übergab am
Sonntagabend um 18 Uhr seine sechsjährige Tochter der Mutter, so wie es die
Besuchsregelung vorsah. Was der Vater damals nicht wissen konnte: Dieser Tag im
Mai 2006 sollte der letzte sein, an dem er Zeit mit seiner Tochter verbringen
konnte.
Bei der Scheidung war ihm zwar ein Besuchsrecht eingeräumt worden, wonach er
jeden zweiten Freitag die Tochter von der Schule abholen und sie bis am
Sonntagabend bei sich haben sollte, doch seit jenem Tag bemüht er sich
vergeblich um den Kontakt mit seinem Kind: Wenn er die Tochter in der Schule
abholen will, ist sie entweder krankgemeldet und gar nicht da - oder sie wird
vor den Augen des Vaters von der Mutter abgeholt. Um keinen Eklat zu
provozieren, schaut er zu, über 70 Mal wartete er bereits vergebens - und das
seit fast zwei Jahren (siehe Nebenartikel «Neubeurteilung kommt nicht voran»).
«Da kann ich auch nichts machen»
80 bis 90 Prozent der jährlich rund 21’000 Scheidungen laufen reibungslos. «Die
grosse Mehrheit der Eltern findet bei der Trennung tatsächlich einen Modus, der
für die Kinder erträglich ist», bilanziert der renommierte Zürcher Kinderarzt
Remo Largo. Doch in den restlichen Fällen tragen die Erwachsenen ihren Streit
auf dem Buckel der Kinder aus. In Zahlen heisst das: Jährlich geraten bis zu
4000 Kinder zwischen die Eltern, die sich mit juristischen und anderen Mitteln
bekämpfen.
Largo macht klar, dass in erster Linie die Eltern dafür verantwortlich sind, den
Kindern nach einer Trennung den Kontakt zu beiden Elternteilen zu ermöglichen.
Indem sie das Kind gegen den anderen Elternteil aufwiegeln, stürzen sie es in
schwere Loyalitätskonflikte - ein elementarer Verstoss gegen das Kindeswohl.
Doch gleichzeitig kritisiert Largo auch die Behörden und die Justiz. Immer
wieder wenden sich verzweifelte Väter und Mütter an ihn, weil Verfahren vor
Gericht nur schleppend abgewickelt werden und Behörden trotz klarer Ausgangslage
untätig bleiben. Besonders fatal ist, wenn - wie im Fall von Markus Einhaus -
ein Elternteil dem anderen den Kontakt zum Kind erschwert oder sogar
verunmöglicht. Solche Fälle kommentiert Remo Largo mit deutlichen Worten: «Durch
ihre Passivität unterstützen Behörden und Gerichte jenen Elternteil, der mit
seiner unkooperativen Strategie dem Kind schweren psychischen Schaden zufügt.»
Die in Einhaus’ Fall betroffenen Amtsstellen und zuständigen Gerichte wollten
gegenüber dem Beobachter keine Stellung nehmen. Der Berner Einzelrichter
Hans-Ulrich Gerber, der in keinen der aufgezeigten Fälle verwickelt ist, aber
selbst seit 20 Jahren familienrechtliche Fälle beurteilt, sieht die
Verantwortung ausschliesslich bei den Eltern. Werde ein Kind durch eine
Scheidung traumatisiert, sei das «weder ein rechtliches noch ein richterliches
Problem». Schuld sei derjenige Elternteil, der entgegen den rechtlichen Vorgaben
«faktische Verhältnisse» schaffe. Ein anderer Richter sagt lakonisch: «Klar ist
es nicht gut, wenn ein Elternteil das Besuchsrecht des anderen verhindert, aber
da kann ich auch nichts machen.»
Ähnlich tönt es seitens der Amtsvormundschaft. «Immer mehr Eltern versuchen, ihr
Recht mit allen Mitteln zu erkämpfen», sagt Christoph Bänziger vom Amt für
Jugend und Berufsberatung des Kantons Zürich. Die Vereinigung Schweizerischer
Amtsvormünder (VSAV) sieht die Aufgabe eines Beistands hauptsächlich in der
«Motivationsarbeit der Eltern». Denn: «Bei mangelnder Kooperation der
Beteiligten erweist sich die Vollstreckung des persönlichen Verkehrs in der
Praxis als äusserst schwierig und komplex», sagt Urs Mosimann, Sekretär der
VSAV. Ein Vormund, bei dem sich problematische Fälle häufen, erklärt seine
Frustration: «Ich versuche zu vermitteln, aber wenn sich eine Seite weigert, bin
ich machtlos.»
Mit dieser Argumentation machen es sich aber Richter und Vormundschaftsbehörden
zu einfach, findet Kinderarzt Largo: «Auch Behörden und Gerichte tragen eine
Verantwortung. Für Kinder ist es eine Katastrophe, wenn sie den anderen
Elternteil nicht sehen dürfen, nur weil ein Gericht keine Entscheidung trifft
oder die Behörden untätig bleiben.» Gemäss Largo ist es ein «elementares Recht
für jedes Kind, mit dem Elternteil zu leben, bei dem es am besten aufgehoben
ist, sowie Kontakt zu beiden Elternteilen zu haben». An den Behörden und
Gerichten sei es, das zu gewährleisten. Statt Monate und Jahre solle es
höchstens einige wenige Wochen dauern, bis eine Behörde einen Entscheid fällt.
Pflichtmediation - das verordnete Gespräch
Um die unbefriedigende Situation zu verbessern, die für Kinder langfristig
traumatische Folgen haben kann, brauche es keine neuen Gesetze, ist Kinderarzt
Largo überzeugt. Sowohl Vormundschaftsbehörden als auch Gerichte müssten die
Eltern stärker in die Pflicht nehmen. Largo: «Einem unkooperativen Elternteil
muss man unmissverständlich klarmachen, dass das Kind Zugang zum anderen
Elternteil haben muss. Verweigert ein Elternteil dem anderen das Besuchsrecht,
ist das Grund genug, um das Sorgerecht neu zu regeln.» Sprich: Dem
unkooperativen Elternteil wird die Erziehungsfähigkeit abgesprochen, das Kind
könnte umplatziert werden.
Auch Beistände wären nicht ganz so hilflos, wie sie selbst ihre Situation
darstellen. Sie dürfen zwar nicht für einen Elternteil Partei ergreifen. Aber
unterläuft ein Elternteil ständig das Besuchsrecht des anderen, müsste ein
Beistand nur schon deshalb handeln, weil das Kindeswohl betroffen ist. In einem
solchen Fall müsste ein Beistand von sich aus der Vormundschaftsbehörde Bericht
erstatten oder gar Anträge stellen. An der Vormundschaftsbehörde wäre es dann,
bei jeder Verletzung des Besuchsrechts die unkooperative Seite erneut zur
Einhaltung des Besuchsrechts zu ermahnen - unter Strafandrohung. Auch eine
Vormundschaftsbehörde könnte die Erziehungsfähigkeit eines unkooperativen
Elternteils in Frage stellen und so die Obhutsfrage aufs Tapet bringen.
Vereinzelt wenden ausserdem Richter ein neues Mittel an, um zerstrittene Eltern
an ihre Verantwortung für ihre Kinder zu erinnern: die Pflichtmediation. In
Pilotprojekten in Österreich, Deutschland und den Niederlanden führte diese
verordnete Mediation zu hohen Erfolgsquoten. In Norwegen ist sie seit 1993
obligatorisch, wenn es um Kinder unter 16 Jahren geht.
Im Fall von Markus Einhaus, der seine Tochter seit fast zwei Jahren nicht
treffen kann, unternimmt der Beistand nichts, und die Gemeindebehörde schaut
hilflos zu. Dem Vater schrieb die zuständige Gemeinderätin neulich: «Ich möchte
Ihnen ein weiteres Mal mitteilen, dass wir aus unserer Sicht alles unternehmen,
damit Ihnen das zustehende Besuchsrecht wieder gewährt wird.» Passiert ist
nichts.