Keine vaterlose Gesellschaft

«Unseren Alltag geregelt», 6.12.07

Wundervoll formuliert Herr Professor Peter Breitschmid im Zusammenhang mit dem 100-Jahr-Jubiläum des ZGB am 10. Dezember 2007 die Beziehung von Eltern zu Kindern in westlichem Kultur- und Rechtsverständnis. Wir erlauben uns, zwei der so treffenden Sätze zu zitieren. «Die gemeinsame Verantwortung soll das Kind vor emotionaler, kultureller oder entwicklungspsychologischer Monopolisierung schützen» Und: «…Eltern müssen die …Chance haben, … ihre Wertvorstellungen und emotionalen Anliegen zu vermitteln und ihr Kind an ihrem Leben teilhaben zu lassen.»

Das ZGB, wie Herr Professor Breitschmid erwähnt, wurde gerade im Bereich Familienrecht tiefgreifend verändert. Trotzdem beinhaltet das ZGB noch kein bedingungsloses gemeinsames Sorgerecht für die Kinder scheidender Eltern. Professor Breitschmid erwähnt, dass das 100jährige Gesetz nicht der «modernen» Welt hinterherhinken müsse. Das Gesetz stehe zu seiner Unvollkommenheit, und deshalb lasse es Raum für gerichtlichen Entscheidungsspielraum.

Sehr oft möchten engagierte Väter ihr Engagement den Kindern gegenüber im Sinne der obengenannten zwei Zitate auch nach einer Trennung/Scheidung weiterführen, was natürlicherweise im Interesse der Kinder liegt. Gemäss ZGB wird jedoch dem Vater das Sorgerecht über seine Kinder bei einer Scheidung entzogen, wenn die Mutter kein auch nach der Ehe weiterführendes gemeinsames Sorgerecht wünscht. Der Gesetzgeber, der wie im Artikel erwähnt, heute schüchterner sei, hat diese Regelung im Jahr 2000 verabschiedet. Trotzdem gäbe es Lösungen, die Europäische Menschenrechtskonvention – Stichwort Dekodifikation und «Auslagerung» – auch in der Schweiz umzusetzen. Der gerichtliche Entscheidungsspielraum macht es möglich. Im Interesse von Kindern liegt es an unseren Gerichten, ihre Möglichkeiten zu nutzen und verhandlungsunwillige Elternteile bei Streitigkeiten um das Sorgerecht an ihre elterliche Verantwortung zu erinnern. Scheidungskinder sollen den Kontakt zu einem Elternteil – meist dem Vater – nicht aufgeben müssen, keine Scheidungswaisen werden. Die Gesellschaft darf nicht vaterlos werden.

In diesem Zusammenhang wurde genau am ZGB-Jubiläumstag, dem 10. Dezember, das Netzwerk «Schweizerische Vereinigung für gemeinsame Elternschaft – GeCoBi» gegründet mit dem Ziel, die schwierigen Situationen von Scheidungskindern zu verbessern – im Interesse der Kinder und ihrer Mütter und Väter.

Die Gesetzesänderung für eine gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall wird in nächster Zeit ins ZGB aufgenommen werden. Die Schweiz kann sich nun aussuchen, wie viele Jahre bis dahin noch vergehen sollen.

 

Patrick Baumann Landquartstr. 59 9320 Arbon www.doubtfire.ch, Mitglied von GeCoBi, www.gecobi.ch

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Leserbrief erschienen aufgrund des Artikels:

Unseren Alltag geregelt

Vor 100 Jahren wurde das Schweizerische Zivilgesetzbuch verabschiedet. Rechtsprofessor Peter Breitschmid beschreibt dessen Grundsätze und Weiterentwicklung.

Das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) ist in positivem Sinne selbstverständlich: Es regelt Verein und Nachbarrecht, Scheidung und Erben – also die alltäglichen zwischenmenschlichen Belange. Es tut dies nach wie vor weitgehend im Gewand von 1907, trotz etlicher, teils tiefgreifender Änderungen, beispielsweise im Familienrecht. Das mag etwas altertümlich-visionslos anmuten. Ob allerdings Gesetzgebung visionär zu sein hat oder nicht eher nachzeichnet, was (gesellschaftlich geltende) Usanz ist? Recht soll nicht die gesellschaftliche Entwicklung blockieren oder Visionen abwürgen, sondern vielmehr noch Freiraum schaffen, der individuelle Entwicklung ermöglicht, soweit dies nicht Nachbarn oder Gesellschaft stört. Recht gestaltet zwar die Gesellschaft, kann sie aber nur sehr beschränkt umgestalten. Die Gesellschaft entwickelt das Recht demokratisch. Hat sie Visionen, so wandelt sich das Recht: So sind auf Anfang dieses Jahres Regeln über gleichgeschlechtliche Partnerschaften geschaffen worden.

Die Entwicklung wird von den einen als überaus träge, von den andern als hektisch-irritierend empfunden – die beiderseitige relative Unzufriedenheit ist untrügliches Zeichen für den typisch-schweizerischen Kompromiss. Dass «Träge» und «Turbos» sich vertragen, ist Aufgabe des Gesetzes, die das ZGB recht gut versieht. Weiter ausgreifende private Visionen sind nicht ausgeschlossen: Erbverträge können Pflichtteilsrechte ausschalten; Scheidungsvereinbarungen können weiterhin ein Erbrecht zugestehen.

Pragmatischer Ansatz

Wenn sich am 10. Dezember zum hundertsten Mal die einstimmige Verabschiedung des Zivilgesetzbuchs durch die eidgenössischen Räte jährt, ist das also nicht Zeichen dafür, dass unsere Gesetzgebung den Ansprüchen einer «modernen» Welt hinterherhinkt. Die Handhabung des Gesetzes wandelt sich im Alltag: Ob ein Wegrecht mit Handkarren oder 40-Tönnern auszuüben ist? Das hängt von den damaligen und heutigen Umständen ab – und damit vom gerichtlichen Ermessen (Artikel 4 ZGB). Dieser gerichtliche Entscheidungsspielraum ist – auch im internationalen Vergleich – ein prägender Wesenszug des Gesetzbuches. Das schweizerische Recht verfolgt ganz generell einen pragmatischen Ansatz: Nicht nur besagt dieser Artikel 4, dass das Gesetz nicht alles im Nano-Bereich regeln kann, sondern es steht in Artikel 1 zu seiner eigenen Unvollkommenheit. Dort wird dem Gericht zugestanden, allfällige Lücken zu füllen – nicht nach Gutdünken freilich, sondern nach der Regel, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. Artikel 2 ZGB hält sodann explizit fest, dass der grösste Feind des Rechts das Recht selbst sein kann, wenn es zweckwidrig-formalistisch missbraucht wird. Gelegentlich wird allerdings auch Artikel 2 missbraucht, denn es ist Aufgabe des Gerichts und nicht einer Partei zu beurteilen, wer denn nun das Recht missbraucht.

Offene Haltung

Dieser gutschweizerische Pragmatismus bedingt Verlässlichkeit der Institutionen. Zwar mögen sich Einzelne vom Gericht ungerecht behandelt fühlen – was zwar bedauerlich ist, aber deshalb nicht erstaunt, weil schwere Konfliktfälle oft kaum befriedigend lösbar sind, ob nun gerichtlich oder anderweitig. Aber die Schweiz hat historisch nicht die Erinnerung an systematischen Missbrauch des Rechts durch die Staatsmacht zu bewältigen, wie das etwa in der deutschen Methodenlehre noch immer nachklingt.

Auch Flexibilität ist eine Methode, und das, was gelegentlich leicht spöttisch als «Methodenpluralismus» bezeichnet wird, ist nicht willkürlicher Pragmatismus, sondern eine offene Haltung. Pluralistisch soll nicht nur die Denkhaltung, sondern die Rechtsordnung insgesamt sein. Sie hat unterschiedlichste Belange zu ordnen: Neben dem Privatrecht (zu dem das Zivilgesetzbuch und das Obligationenrecht gehören) auch Straf- und öffentliches Recht und damit unzählige Grenzbereiche. Ein Beispiel: Familiäre Unterhaltspflichten sind in den letzten hundert Jahren durch Leistungen von IV, AHV und Krankenkassen ergänzt worden – «Familie» wird im allgemeinen Sprachgebrauch heute allerdings gänzlich anders definiert als im ZGB, und sie wird in ihren «atypischen» (vom Gesetz nicht berücksichtigten) Ausprägungen teils diskriminiert: Wieso, beispielsweise, sollen die Zuwendungen der Witwe an das aussereheliche Kind ihres Mannes nach dem erbschaftssteuerlichen «Straftarif» für Familienfremde sanktioniert werden?

Warum soll überhaupt der Gebrauch der Testierfreiheit, also die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über den eigenen Nachlass, erbschaftssteuerlich diszipliniert werden? Zwar ist die Erbschaftssteuer kein grösseres Übel als jede Steuer, doch bestraft sie nach kantonalen Vorgaben Abweichungen von der gesetzlichen Erbfolgeordnung zugunsten Nichtverwandter und behindert damit die vom ZGB und der Eigentumsgarantie gewährleistete Ausübung der Testierfreiheit.

Innere Harmonie der Rechtsordnung

So betrachtet, gehört der belanglos erscheinende Artikel 7 ZGB zu den wichtigsten Bestimmungen der Rechtsordnung. Dem Wortlaut nach besagt er nur, dass die allgemeinen Bestimmungen des Obligationenrechts (OR) im gesamten Zivilrecht gelten. Dem Sinn nach greift die Regel aber viel weiter aus und gewährleistet in einer Zeit der sogenannten Dekodifikation über ihren Wortlaut hinaus nicht nur die Kohärenz von ZGB und OR unter sich, sondern auch zu den Spezialnormen und zum übergeordnetem Recht (Verfassung und Europäische Menschenrechtskonvention). Dekodifikation meint die «Auslagerung» komplexer Einzelfragen – beispielsweise rund um die künstliche Fortpflanzung – in Spezialgesetze.

Die Rechtsordnung insgesamt muss einigermassen kohärent sein. Damit Recht Ordnung ist, hat die Rechtsordnung einheitlichen Wertungen zu folgen, sind alle einzelnen Teile als notwendige Elemente eines sich wechselseitig bedingenden Systems zu begreifen. Ein ZGB allein schafft nicht Recht und Ordnung, aber die Ordnung des ZGB ist auch für das Steuerrecht massgeblich.

Internationaler Gleichklang

Globalisierung und Migration erfordern heute stärker auch einen gewissen internationalen Gleichklang. Man kann – im übertragenen Sinn – zu Hause gemütlich in der aufgeräumten Stube sitzen: Plötzlich meldet ein Fremder seinen Besuch an – ein käuflich adoptiertes oder geklontes Kind, eine Mehrfach-Ehe, ein Konkubinatserbrecht – Dinge, die es nach ZGB nicht gibt. Wie geht ein Gericht vor, das «fremdes Recht» anzuwenden hat? Was ist Recht? Und was ist fremd? Und was ist überhaupt «schweizerisch»? Ist eine andere Ordnung gleicher Fragen schon Unrecht?

Problematisch ist nur eine kulturell-mentalitätsmässig völlig unverträgliche Regelung: dass bei Scheidung zum Beispiel Kinder nur dem Vater zugeteilt werden dürfen. Die elterliche Beziehungskrise ist zwar global zum alternativen statistischen Regelfall geworden, doch gehört der Fortbestand gemeinsamer Elternverantwortung zum Kernbestand schweizerischen, beziehungsweise «westlichen» Kultur- und Rechtsverständnisses. Die gemeinsame Verantwortung soll das Kind vor emotionaler, kultureller oder entwicklungspsychologischer Monopolisierung schützen. Es soll über seine Identität dereinst autonom bestimmen können, was Chancen auf kulturelle und biographische Diversität in der Entwicklung vom Kleinkind bis zur Studienwahl erfordert. Auch unvollkommene Eltern – gibt es «perfekte Eltern» ausser bei den Verfechtern eines scheinbaren Familien-Idealbildes aus dem 19. Jahrhundert? – müssen die rechtlich geschützte und also auch durchsetzbare Chance haben, im wechselseitigen Interesse Kontaktrechte zum Kind zu wahren, also ihre Wertvorstellungen und emotionalen Anliegen zu vermitteln und ihr Kind an ihrem Leben teilhaben zu lassen.

Die Fremdheit fremden Rechts ist jedoch selten so ausgeprägt. Interessant zu wissen, dass das schweizerische Zivilgesetzbuch seit 1926 weitgehend gleichlautend (und nachgeführt) auch in der Türkei gilt. Klar zwar, dass hiesige Grundbuchverwalter auf einer Studienreise kaum neue Erkenntnisse für ihren Alltag gewinnen, doch hat sich der offene Rahmen des ZGB insgesamt in der Türkei bewährt. Punktuell fliessen auch Erkenntnisse in die Schweiz zurück (zum Beispiel zu erbrechtlichen Privilegien von Zuwendungen an wohltätige Institutionen).

Eine perfekte Rechtsordnung?

Jede Zeit ist auf der Suche nach der perfekten Rechtsordnung. Auch eine «moderne» wird «alt». Und manchmal ist auch «alt» noch «modern». Das häufige punktuelle Intervenieren stört oft die Symmetrie der bestehenden Gesetzesarchitektur: «Alte» Regeln können nach Artikel 1 des Zivilgesetzbuches einigermassen angepasst werden, «neue» sind an den aktuellen gesetzgeberischen Willen gebunden. Dieser Wille äussert sich manchmal sehr fein ziseliert (aber nicht notwendig aus «höherer Warte») und weckt damit den Eindruck einer «vollständigen», ihrer Intention nach lückenlosen Ordnung, deren Weiterentwicklung nach Artikel 1 eingeschränkt ist.

Neue Normen mit veränderter Gesetzgebungstechnik in einer Welt, die sich deutlich rascher und unerwarteter verändert, schaffen deshalb manchmal mehr Probleme, als sie zu lösen beanspruchten. Oder sie schaffen andere. Das ZGB konnte sich nur deshalb über drei der hektischsten Generationen der Menschheitsgeschichte hinweg halten, weil es konzeptionell flexibel und dem Gesetzgeber die Unvollkommenheit seiner Arbeit ebenso bewusst war wie die permanente Entwicklung von Leben und Gesellschaft.

Der heutige Gesetzgeber ist schüchterner – oder am Ende überheblicher? –, neigt eher zu einer Überreaktion, statt die sich wandelnden Realien anzuerkennen und offen zu begleiten. Keinen Aktivismus zu entfalten bedeutet nicht Nichtstun, sondern die bestehende Rechtslage zu analysieren und danach zu handeln. Nur selten lässt sich keine Lösung finden. Manches kann getrost der Detailausgestaltung im Alltag überlassen werden.

Peter Breitschmid ist Professor für Privatrecht mit Schwerpunkt ZGB an der Universität Zürich. Zuvor lehrte er an der Universität St. Gallen.